«Soraya!?» sagt der Verkehrspolizist an der Kreuzung - weder ganz Feststellung noch eine richtige Frage. Wir kennen uns schon eine Weile. Jeden Nachmittag komme ich auf dem Heimweg von der Schule hier auf einem Brompton vorbei. Nur selten halte ich an der Ampel an. Meistens schlängle ich mich im dichten Nachmittagsverkehr durch die Lücken zwischen den Bussen, Autos, Esels- und Pferdekarren auf der Sharia Mohi Al Din Abou Al Ezz.
Als Ausländer errege ich auf einem - nach Ansicht der Ägypter - viel zu kleinem (soraya) Fahrrad gehöriges Aufsehen. In Kairo fährt eigentlich nur Rad oder läuft längere Strecken, wer es sich nicht leisten kann Minibus oder Taxi zu fahren. Von einem Auto ganz zu schweigen. Meistens sind es die Bawabs (eine Art Hausmeister) oder Lieferjungen, die im unmittelbaren Nahverkehr auf das Fahrrad zurückgreifen.
Frauen fahren hier nicht Fahrrad. Viele können auch gar nicht Rad fahren. Solche Dinge lernen die Kinder oberhalb eines gewissen sozialen Staus hier nicht, dachte ich lange Zeit. Weit gefehlt. Es gibt Läden, die übervoll mit Kinderfahrrädern sind - in den privaten Clubs oder auf dem abgeschlossenen Compounds sind sie zumindest für Jungen ein beliebtes Spielzeug.
Die andern Radfahrer auf ihren stabilen indischen oder chinesischen Rädern grüßen immer anerkennend. Oder sie lassen mir den Vortritt in eine der Lücken durch die man sich am Stau vorbei vorwärts zwängt. Diese Lücken teilen wir uns mit den Fußgängern, die sich ebenso am Straßenrand an den Autos vorbei quetschen.
Sehnsüchtig habe ich die Ankunft unseres Umzugs erwartet, um endlich aufs Rad steigen zu können. Es gibt ungezählte Mengen an Taxen, die aber morgens, wenn ich auf dem Weg zur Schule bin, noch schlafen oder deren Fahrer Foul [ein Bohnensandwich] kauend an der Ecke stehen. Nachmittags fahren sie grundsätzlich in eine andere Richtung oder sie scheuen den Stau am Shooting Club, den ich ihnen als Ziel zurufe. Endlich eine Kutsche gefunden, können die zwei Kilometer bis zu einer halben Stunde dauern - während der ich gemütlich ins Plastik der Sitze schwitze.
Aus dem Taxi sieht man noch mehr Taxen
Foto: H. Bruns, 2006
Über das Taxifahren können sich die in Kairo lebenden Ausländer stundenlang unterhalten: wie teuer die Fahrt (die Taxameter sind nur Zierrat), wie kaputt das Auto, wie laut die Korankassette, wie halsbrecherisch der Fahrstil oder dass man im Ramadan zu fünft ein Taxi genommen hat. Kein Wunder, denn wer auf das eigene Auto - vielleicht sogar mit Fahrer - verzichtet, der muss Taxi fahren. Die zwei Metrolinien sind nur für wenige Ziele eine Alternative, das System der Buslinien ist für uneingeweihte Ausländer undurchschaubar, die privaten weißen Minibusse überfüllt und wenig Vertrauen erweckend verbeult. Dafür sind sie zur Sicherheit liebevoll mit Koranversen bemalt und im Inneren mit Amuletten gegen den bösen Blick behängt.
Zu Beginn unseres zweiten Jahres werden wir schwach: Ein eigenes Auto, ein eigener Fahrer - ja das wäre schön! Das Unvorstellbare ist eingetreten: Kairo hat uns zu Autofahrern gemacht. Der tägliche Weg in den Schweizer Club zum Spielen, am Wochenende bequem zum Schwimmen in die Schule und wieder zurück, kurze Ausflüge in die Umgebung - mit dem eigenen Auto wäre alles einfacher. In einer Stadt, die keine Gehwege, geschweige denn Radwege, kennt, wird man fast zwangsläufig zum Autofahrer: Alles - das heißt Kind, Buddelzeug und Taschen - müssen bis zur nächsten Ecke geschleppt werden, wo mehr Taxen vorbeifahren als vor unserer Haustür oder dem Clubtor.
Er könne nur von zehn bis vier arbeiten, meint der junge Mann, der sich bei uns als Fahrer bewirbt. Völlig unbrauchbare Arbeitszeiten, aber er hat ein eigenes Auto! Mit Engelszungen versuchen wir ihm brauchbare Zeiten abzuverhandeln. Ohne Erfolg. Die Abkehr von der Autofreiheit scheint nicht leicht zu sein. Nach einigen Tagen voller "vielleicht", "wenn" und " es wäre schön" geben wir den Traum vom eigenen Auto auf.
Auch in Ägypten rechnet es sich nicht: Für planbare Wege wird ein Limousinenservice in Anspruch genommen, für längere Strecken ans Rote Meer schickt das Hotel einen Wagen, in die Wüste bringt uns ein Minibus und für die Off-Road-Touren mieten wir uns einen Jeep.
Unwägbarkeiten bleiben: Der Besuch zu Weihnachten wird doch nicht am Flughafen abgeholt und muss mühsam per Handy in die richtige Richtung gelotst werden. Bei den neuen Yellow Cabs, die seit April unterwegs sind und einen besseren Service bieten sollen, sind die Buchungen schwierig und jede zweite Fahrt fällt aus.
Den kleinen Rädern des Faltrads haben die Straßen in Kairo einiges abverlangt. Weit mehr als eine Hand voll Speichen habe ich in den zwei Jahren gewechselt und dabei notdürftig die Laufräder zentriert. Aus dem rauhen Asphalt stehen häufig Kanaldeckel heraus oder das Fahrrad verliert sich in den Tiefen eines Schlaglochs. Regelmäßig muss der Besuch aus Deutschland Ersatz für ein Verschleißteil liefern.
Zum Abschied geben wir uns die Hände. Der Polizist ist stolz sich mit mir in gebrochenem Englisch unterhalten zu haben. Ebenso stolz bin ich auf meine Bröckchen Arabisch, die das Gespräch bereicherten.
Wenn ich nachmittags vorbeikam, grüßte ich ihn freundlich; auch der alte Mann, der an meiner Kreuzung Blumenkränze verkauft, winkte mir jeden Tag lächelnd zu.
Vielen Dank an Matthias Lemke, der mir sein Brompton für die Zeit in Kairo geliehen hat.
*Heiko Bruns arbeitete von August 2004 bis Juni 2006 als Lehrer an einer deutschen Schule in Kairo und war von 2011 bis 2017 Vorsitzender von autofrei leben! e.V.
(Handelsblatt) Nur mit einem massiven Ausbau des Straßennetzes lasse sich der Verkehrsinfarkt beheben, deshalb fordert der ADAC ein „gezieltes Anti-Stau-Programm“. Zwei kanadischen Verkehrsökonomen kommt zu einem anderen Ergebnis: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten.
Verkehrskollaps, Todesopfer, Klimawandel. Die herkömmliche Verkehrsplanung löst keine Probleme, sondern erzeugt sie. Über das Versagen der herkömmlichen Verkehrsplanung.
"Armut ist hierarchisch, Smog ist demokratisch."
--- Ulrich Beck