Die chinesische Sprache besteht aus zahlreichen kurzen Wörtern, wie wir sie allenfalls als Silben kennen - für die Vielfalt der Bedeutungen jedoch ist die Intonation maßgeblich. Als ich kürzlich in die Situation kam, einen Chinesen um einen Moment Geduld bitten zu wollen, fielen mir Englisch moment, Italienisch momento und auch noch Arabisch lahsa ein. Nur der chinesische Ausdruck dafür natürlich nicht. Aus dieser Perspektive schienen mir auf einmal alle europäischen Sprachen ein Einheitsbrei, und das Arabische zwar völlig anders lautend, aber wenigstens noch ähnlich funktionierend. Chinesisch ist relativ dazu wie von einem anderen Stern. Das betrifft auch Denkweisen und Verhaltensmuster sowie, was weitaus weniger bekannt sein dürfte, den Straßenverkehr.
Unter Automobilisten ...
Die Geburtsstunde meiner chinesischen Verkehrseindrücke ereignete sich am 9. April 2006 in Xi’an, als ein hauptberuflicher Autofahrer uns in die eine Stunde vom Flughafen entfernte Wohnung im östlichen Zentrum der Stadt verbrachte. Zunächst einmal waren Gurte vorhanden, jedenfalls die Seile dazu - aber es fehlte die Möglichkeit, sie an irgend etwas zu befestigen. Das übliche Herumbohren und Suchen in den Polsterritzen brachte allerhand unappetitliche Dinge zum Vorschein, führte aber durchaus nicht zum Erfolg.
Der nächste Eindruck betraf sodann die Vielzahl der Gefährte: Auf der Straße konkurrieren (im besten Wortsinn des lateinischen concurrere: "fahren gleichzeitig"!) Busse und Lastwagen alter und moderner Prägung; Geländewagen; VW Santana Droschken; Ami-Schlitten; schwere europäische Luxuskarossen; Dreiräder, Motorräder, (teils motorbetriebene) Lastenräder und Rikschas; und natürlich immer noch zahlreiche Fahrräder - wobei diese sich wieder in motorisierte und unmotorisierte sowie chinesisch-solide und westlich-bunte unterteilen.
Je geringer der Autobahn-Charakter einer Straße, desto größer die Zahl der Radfahrer und Fußgänger. Es darf nicht unerwähnt bleiben, das auf jeder Straße auch Fußgänger als Verkehrsteilnehmer auftreten: Querend, entgegenkommend und parallel wandelnd. Unser Fahrer legte nun also ein mittleres Tempo hin, überholte mal links, mal rechts, schnitt hier jemand, wurde von dort jemand geschnitten und machte reichlich von seiner Hupe Gebrauch. Jeder Überholvorgang war bei ihm von Hupen begleitet, und als ich einen Blick nach vorne warf, erkannte ich, daß er tatsächlich nur die rechte Hand am Steuer hatte - die andere wurde ja zur Warnung der Langsameren benötigt. Die eigene Hand hielt ich mir angelegentlich vor beide Augen, in sicherer Erwartung eines schweren Unfalls - etwa, wenn links abgebogen werden mußte und der Gegenverkehr keine Anstalten machte, das Tempo zu verringern. Ampelsignale dienten allenfalls zur Orientierung und führten jedenfalls nicht dazu, daß bei Rot auf die Weiterfahrt bzw. die Überquerung einer Straße verzichtet worden wäre. Einzig: Es geschah nie etwas. Ich will ehrlich sein und gleich einschränkend hinzufügen, daß ich unterwegs schon während dieser ersten Fahrt zweimal zwei Autos mit verbeulten Kühlern und gebrochenen Frontscheiben sich unglücklich nah beieinander gesehen habe. Dennoch: Wie ist es zu erklären, daß in einem derart chaotischen Un-System sich kaum jemals schwere Unfälle ereignen? Ganz offenbar ist der Verkehr voll funktionsfähig, anderenfalls würden die Chinesen ja längst das Bedürfnis verspürt haben, ihn anderweitig zu regulieren. Machen wir uns also nicht typisch westlich lächerlich, indem wir den Chinesen erklären wollen, was sie alles falsch machen! Werfen wir lieber einen Blick auf das Geschehen ...
... als Fußgänger ...
Spätestens zwischen Auto- und Haustür muß bekanntlich auch der strammste Automobilist automobil (lat. "selbstbeweglich") werden. In China verschwimmen die Grenzen da stärker. Man kann auch Uniformierten auf klapprigen Rädern begegnen und mancher Geschäftsmann läuft zu Fuß, während die Heerschar der Taxifahrer zu den Ärmsten der Gesellschaft gehört. Im Vordergrund steht die schlichte Notwendigkeit, zum Ziel zu gelangen. Wer ein Auto fährt, will zur Arbeit kommen oder nach Hause oder einen Termin wahrnehmen. Wenn wir also in Deutschland auf der Autobahn mit 240 km/h auf unseren Vordermann auffahren (nicht ohne fleißig Licht gehupt zu haben), dann geschieht das, weil dieser [sic!] auf der mittleren Spur anstatt äußerst rechts gefahren ist oder weil wir demonstrieren wollen, daß er [sic!] soeben die Richtgeschwindigkeit von 120 km/h unterschreitet. Sich mit in dieser Weise fahrlässig selbst verschuldeten Unfällen ("ich hatte doch Vorfahrt!") bzw. Verkehrserziehung Dritter überhaupt aufzuhalten, ist dem Chinesen völlig wesensfremd. Daher spielt auch rinks und lechts nicht die bekannte staatstragende Rolle, obgleich Rechtsverkehr den Normalfall darstellt.
Daher Merkregel Nr. 1 für deutsche Fußgänger in China: Ein Autofahrer fährt nur so schnell, wie er es eilig hat! Auch wenn die Straße frei ist!
Regel Nr. 2: Der Autofahrer will dich nicht umbringen! Es sei denn, du bestehst darauf!
Regel Nr. 3: Das Wikipedia-Motto: "Sei mutig!" Zur Übung begebe man sich an eine mäßig befahrene Straße im äußeren Zentrum, vorzugsweise mit Zebrastreifen, ohne Ampel und ohne Kreuzung. Ein Blick nach links zeigt, daß ein Taxi mit hoher Geschwindigkeit noch 50 Meter entfernt ist. Jetzt auf keinen Fall stehenbleiben, denn eine solche günstige Gelegenheit kehrt so schnell nicht wieder. Zur Mitte der Straße gehen, keinesfalls rennen. Jetzt kommen von rechts zwei Linienbusse, die ihrerseits links von drei Radfahrern überholt werden; hinter uns braust noch das Taxi vorbei: Also Bauch rein und Brust raus!
Regel Nr. 4: Wenn es nur irgend möglich ist, nicht rennen. Man weiß sonst nie, in was man hineinrennt.
Und Nr. 5: Keinen Blickkontakt zu den Fahrern aufnehmen, denn so bleibt garantiert keiner stehen. Statt dessen immer das Geschehen aus dem Augenwinkel betrachten, mutig und umsichtig zugleich agieren - auch einmal etwas riskieren. Schlimmstenfalls wird man zurückgehupt. Dies bringt nicht Wut oder Schande, sondern eine millionenfach alltägliche Warnung zum Ausdruck. Eine Warnung, die eine Sekunde später schon wieder belanglos sein wird. Nach einigen Versuchen geht die chinesische Straßenüberquerung in Fleisch und Blut über.
An Fußgängerampeln verhält es sich genauso wie eben beschrieben, da sich an den wenigsten Stellen jemand an die Signale hält. Bei Grün ist es für unsereins tendenziell etwas gefährlicher zu gehen, weil viele Autos trügerisch sicher anhalten, während andere unerwartet herauspreschen. Für gewöhnlich ist eine rückwärtslaufende Sekundenanzeige angebracht. Man sollte dann nicht mehr gehen, wenn nur noch zehn Sekunden Grün verbleiben, da umgekehrt die Autos ohne Puffer digital angezeigt bekommen, wie lange noch Rot ist - wenige Sekunden davor ist Startschuß für das Gaspedal und wehe dem, was dann noch nicht auf den Bäumen ist. Wo ein Polizist den Verkehr regelt, gebietet der Anstand, daß man nur bei Rot geht, wenn derselbe einem den Rücken zuwendet. Harsche Reaktionen sind aber auch bei offenem Verstoß selten zu beobachten. Es gilt die Maxime: Nicht erlaubt, aber möglich. (Zugleich letzte Regel, Nr. 6). In einigen Provinzen müssen Radfahrer, die sich einem Signal des Verkehrspolizisten widersetzt haben, mit einem gelben Wimpel an der Kreuzung stehen und so eine bestimmte Zeit ausharren. Es verhält sich ausgesprochen ambivalent in China ...
... mit dem Rad
Ein chinesischer Freund von mir formulierte es trefflich auf Deutsch, in dem er sagte: "China ist ein Königreich für Radfahrer - aber der Radfahrer ist nicht König in China." Bei ihm in der Hauptstadt der chinesischen Provinz Innere Mongolei Hohhot (chinesisch: Hūhéhàotè), unternahm ich erste Geh- (bzw. vielmehr Dreh-)versuche mit dem Rad. Mit vom Troß war noch eine Freundin aus Deutschland, die ebendort 200 Meter zu einer Eisbude wohl als längste Strecke jemals mit dem Rad zurückgelegt hatte. Meine Sorge hinsichtlich ihrer Verkehrstüchtigkeit sollte sich jedoch als unbegründet erweisen. Die selbstverständliche, große Präsenz von Fahrrädern aller Couleur macht Radfahren in Hohhot selbst im dichtesten Innenstadtverkehr zum Spazierritt und zum Kinderspiel.
Hohhot hat in den letzten Jahren eine Bevölkerungsentwicklung durchgemacht, die typisch ist für die Entwicklung der chinesischen Städte. Ursprünglich ein Dorf von wenigen 100.000 Einwohnern, beherbergt sie mittlerweile mehrere Millionen Einwohner, darunter zahlreiche Landflüchtige sowie Wanderarbeiter. Ringweise schießen Wohntürme und Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden und verlagern die Stadtgrenzen immer weiter nach außen. Der Metropole Shanghai erging es einst nicht anders. Wer also eine Zeitreise unternehmen will, fängt am besten in einer kleinen Großstadt (wie Hohhot) an und hört in einem Leviathan (wie Beijing oder Shanghai) auf.
Wie früher überall in der Volksrepublik ganz selbstverständlich, spielt in Hohhot das Fahrrad noch heute eine tragende Rolle im Verkehr. Es ist zwar bereits zu beobachten, daß hier wie schon in Xi’an oder Beijing breite Radstraßen mit Zäunen oder Pfählen vom übrigen Straßenverkehr abgetrennt sind. Jedoch sind diese Straßen für unsere Begriffe unvorstellbar breit und dicht befahren. Wem es dennoch zu eng ist auf der Fahrradstraße, der fährt ohne Probleme konventionell neben den Autos her.
... Und wohin geht die Reise?
Es gibt keine Last, die in China nicht auch mit Rad transportiert werden würde. Von langen Stahlstangen über Getreide- und Müllsäcke bis hin zu fabrikneuen Motorrollern habe ich alles schon in den Ladewannen der Lasträder ausmachen können. Das Rad ist ein Werkzeug, das sich der instinkt- und erfordernisgesteuerten Dynamik des chinesischen Straßenverkehrs perfekt anpaßt: Es ist klein, wendig und schnell. Eine Verkehrsregelung in dem Sinne, daß für Ordnung gesorgt werde müsse, damit überhaupt noch Bewegung stattfinden kann, kommt hier ursprünglich gar nicht in Betracht. Mit ausreichend reduzierter Geschwindigkeit wird jedes Hindernis gefahrlos umschifft, Haltezeiten sind verschwendete Zeiten. Ich möchte jedem deutschen Fahrradkurier Radurlaub in einer chinesischen Stadt empfehlen. Soviel Vernunft in scheinbar absolutem Chaos wird ihm nirgendwo sonst auf der Welt begegnen.
Gleichwohl, das Idyll ist gefährdet. Mit zunehmendem Wohlstand besorgt sich der Mittelstand die Technik, die uns schon längst den Alltag erleichtert: Waschmaschinen, Kühlschränke, Toaster, Elektroherde, Automobile. Wo jedoch die Zahl der Autos überhand nimmt, kippt die mobilistische Darmflora um. Autos benötigen an dicht befahrenen Stellen Ampeln, da sie sich sonst ineinander verkeilen. Dieselben Ampeln behindern Fußgänger und Radfahrer, die folglich zunehmend an Lebensqualität verlieren und für die gleiche Strecke mehr Zeit benötigen als früher. Die größten Leidtragenden der Ampelwirtschaft sind jedoch die Fußgänger, die der Hetzjagd nun gar nicht mehr entkommen, zumindest, wenn rigide Standards verordnet und das Überqueren der Fahrbahn an bestimmten Stellen verboten oder baulich zugunsten des Autoverkehrs verhindert wird. Eine ungesunde Kettenreaktion wird so in Gang gesetzt: Radfahrer steigen auf Motorrad um, Motorradfahrer auf Auto. Die von oben gelenkte Entwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs kann mit der Dynamik des realen Wandels in keiner Weise Schritt halten.
Eine Stadt wie Xi'an markiert den derzeitigen Wendepunkt in der chinesischen Straßenverkehrsentwicklung. Es ist zwar noch ohne größere Vorübung möglich, sich im Stadtzentrum zu bewegen; gleichwohl muß man allenthalben mit Gefahr rechnen und schon recht beherzt unterwegs sein. Plötzlich auffliegende Autotüren oder direkt auf einen zusteuernde Lastwagen sollten einen nicht gleich in irrationale Panik versetzen. Wo immer sich wenigstens noch drei, vier, fünf aus 3 Millionen Radlern nebeneinander begegnen, ist ein Vorwärtskommen immer gesichert. Das einzige, das nach meiner Überzeugung jemals den chinesischen Radverkehr wirklich und wahrhaft nachhaltig beerdigen könnte, wäre ein autofokussiertes, ampel- und vorfahrtsgesteuertes Verkehrssystem nach dem Modell Europas. Und dessen Einführung ist, Gott sei Dank, nicht mit dem einfachen Volk ausgemacht.
Im übrigen bestimmt im Chinesischen immer noch die Betonung, nicht die Schreibweise eines Wortes seine Bedeutung.
(Handelsblatt) Nur mit einem massiven Ausbau des Straßennetzes lasse sich der Verkehrsinfarkt beheben, deshalb fordert der ADAC ein „gezieltes Anti-Stau-Programm“. Zwei kanadischen Verkehrsökonomen kommt zu einem anderen Ergebnis: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten.
Verkehrskollaps, Todesopfer, Klimawandel. Die herkömmliche Verkehrsplanung löst keine Probleme, sondern erzeugt sie. Über das Versagen der herkömmlichen Verkehrsplanung.
"Es geht nicht um einen Kampf für oder gegen das Auto, sondern es geht um einen Kampf für die Freiheit des Menschen aus der Diktatur von Fahrmaschinen."
--- Hermann Knoflacher in "Stehzeuge"