Ein Leben ohne Auto. Bei den meisten Zeitgenossen zaubern diese Worte eine Spur des Mitleids ins Gesicht. Warum macht er das? Warum tut er sich das an? Wie bringt er denn seine Einkäufe heim? Und wenn es regnet, es regnet doch so oft, grad im Juli? Wird er nicht naß? Im Winter, mein Gott, im Winter, fällt er da nicht dauernd vor ein Auto und ist er nicht ständig erkältet? Die Füße müssen doch Eisklumpen sein. Wenn er mal weiter weg will? Vor 2 Jahren bin ich mal 30 km geradelt und ich war echt fertig, weil wir vor einem Gewitter flüchten mußten. Bekannte von uns haben den Radurlaub entnervt mit völlig durchnäßten Sachen abgebrochen.
Das sind ein paar Impressionen aus dem Realitätsausschnitt der Unbedarften. Es gibt jedoch auch ein anderes Fenster in die Welt.
Ein Sommertag wird durch ein Kurzgewitter unterbrochen. Ich sitze in der Arbeit und schau auf dem Regenradar, wie lang das wohl noch dauert. Die Technik verspricht eine trockene Heimfahrt 20 Minuten nach dem ursprünglich geplanten Aufbruch. Paßt noch, dann arbeite ich noch ein paar E-Mails mehr ab, ich setze mich mit den letzten Tropfen auf mein Radl und fahr durch die dampfende Stadt. Der heiße Asphalt hat den Regen gut aufgeheizt, bacherlwarmes Wasser aus den Pfützen spritzt mir äußerst angenehm in die offenen Sandalen.
Ja, es gibt auch Gewitter, die einem so gar nicht passen. Nach meiner Beobachtung sind das nur eine Hand voll pro Jahr, die ich gar nicht umgehen kann. Ansonsten ergibt sich meist eines der anderen Bilder.
Sommer. Heiß. Heimweg nur auf dem normalen Weg oder gleich eine Tour zum Starnberger See durch den kühlen Wald dranhängen? Naja, Zeit hab ich eigentlich, also raus in den Süden der Stadt. Der mittlere Ring Richtung Garmischer Autobahn verrät mir mit stehendem Berufsverkehr, daß ich nicht der einzige am See sein werde. Ich laß die Szenen hinter mir und radl vergnügt durch den Forstenrieder Park zum See raus, dessen Bäume mir Schatten spenden. Der Parkplatz am See ist so voll, daß der Rückstau auf die Straße reicht und die Neuankömmlinge versuchen, Ihre Autos in den Büschen am Straßenrand unter zu bringen. Ich fahr zu dem Steg, der am weitesten von den Parkplätzen und damit von den Massen weg ist und genieß in Ruhe den Blick über's Wasser auf die
Berge.
Frühwinter, fast 10cm Neuschnee. Ich hab mir mein vollgefedertes Mountainbike mit fetten Spikereifen ausgestattet, das ergibt das beste Verkehrsmittel für den Winter, damit komme ich immer durch.
Ich steck die Lichter auf das Fully und wippe los. Erstmal die Lücke vom Dorf zur Stadt auf einem Feldweg durch den Neuschnee passieren. Die Federung dämpft alles gut weg, Traktion hat es genug auf dem Untergrund aus Schotter und ich ziehe eine schöne Linie in den Schnee, wie beim Skilanglauf ohne gespurte Loipe. Ich hab mir für den Arbeitsweg eine Route abseits von den Autos ausgesucht, aber nach 30 Minuten Neuschneespuren und weißen Radwegen stoße ich auf einer vierspurigen Einfallstraße doch auf sie. Die edlen Blechkarossen fahren in Schrittgeschwindigkeit
in einer ekeligen braunen Matsche rum. Leider muß ich über die Straße rüber. Wie mache ich das, ohne mein romantisch weiß angestaubtes Radl mit dieser braunen Salz-Abrieb-Lake zu beflecken? Leider gar nicht und ich rolle angewidert über die Ampelfurt.
Wie Sie meinen Schilderungen entnehmen können, habe ich einen durchaus romantischen Blick auf die Erledigung meines Arbeitsweges. Das entspricht aber auch durchaus der Mehrzahl der Erfahrungen, die ich täglich mache. Ja, es gibt auch Fahrten, bei denen ich die gesamte technische Entwicklung auf dem Bekleidungssektor aufwenden muß, um sie zu überstehen. Mehr wie 5% auf's Jahr sind das aber nicht, und moderne Funktionsfasern rücken diese Tage an den Rand der Wahrnehmung. Spikereifen verwandeln früher gefürchtete Glatteistage in einen Spielplatz für die Anwendung physikalisch weggeschobener Grenzen. Wenn ich im Winter mit den wasserdichten Winterradlschuhen auf die Pedale meines hochbeinigen Fullys mit den LED Brennern nach vorne und hinten und den breiten, grobstolligen Spikereifen klicke, fragt mich keiner mehr, ob ich sicher ankomme, sondern eher ob ich bei solchen Fahrten tatsächlich so viel Spaß haben darf, nach dem es aussieht.
Das Regenradar hilft dabei, kurze Regengebiete zu umgehen, für hartnäckige Vertreter müssen halt die inzwischen recht brauchbaren Regenklamotten ran.
Radlfernverkehr. Auf nach Brixen. Mit der Bahn zum Endbahnhof nach Lenggries und dann knapp 180km mit dem Rad bis Italien. Am tiefen Blau des Achensees vorbei, runter und durch's Tal nach Innsbruck, Brenner Bundesstraße rauf, die in den letzten Jahren gewachsene Zahl der Radwege dort bestaunen und dann runterrollen in die warme Luft Südtirols. Ich brauch einen Tag dafür, was mit dem Auto in zwoeinhalb Stunden erledigt ist. Aber was für ein Tag! Königlicher als auf dieser Dreiländeretappe kann man sich kaum fühlen.
Radlrundreise. Kleines Gepäck mit Klamotten aus Funktionsfasern, die es auch in vorzeigbarer Optik für abends gibt. Bayerntour über eine Woche mit gut 100km langen Tagesetappen auf dem Rennrad. Das Smartphone erledigt die Navigation und die Hotelbuchungen. Eine äußerst angenehme, leicht Art des Kurzurlaubs.
Wozu soll ich mit dem Auto Zeit sparen, wenn ich die Zeit auch auf dem Weg genießen kann?
Solche Entfernungen mit dem Rad mögen für den nur-Autofahrer illusorisch erscheinen, aber sie sind es nicht. Ich bin kein Übersportler und man sieht mir meine Vorlieben für Biergärten durchaus an. Das jahrzehntelange Training beim Radeln und die Rennradvergangenheit haben aber die Schrecken von Fahrten unterhalb von 150 km trotzdem komplett egalisiert. Insofern sind die lächerlichen 18 km in die Arbeit sowieso nicht die Rede wert.
Dazu kommt noch der Faktor Zeit, der für den Radler arbeitet. Mit dem Radl gilt das Werkstorprinzip, Feierabend von Anfang an. Ich hock mich nicht im teuren A4 in den Stau oder mit hunderten schlecht gelaunten Leuten in die verspätete S-Bahn. Ich mach das, was ich gern mach, ich fahr mit dem Radl und tu dabei was für mich.
Damit komme ich zum eingangs erwähnten Mitleid und den zwei Richtungen, die es haben kann. Das Mitleid in Richtung des nassen Radlers ist weit verbreitet. Aber die Sicht des Radlers eröffnet ein anderes Blickfeld: Das Mitleid mit Autofahrern, für die 30 km Radfahren ein unüberwindbares Hindernis darstellt, die im Winter nur den braunen Matsch auf der Straße kennen, für die der Zugang zur Erholung im Sommer mit Stau und Parkplatzsuche verbunden ist, die mit geschlossenen Fenstern vom Sommer abgeschnitten sind, damit ihre Klimaanlage vernünftig läuft. Sie legen mindestens 10.000 Euro für Ihre Blechkiste hin und für einen erträglichen Preis der Betriebsstoffe sind sie auf den guten Willen von Schurkenstaaten und Ölmultis angewiesen. Das Mitleid mit Autofahrern, die den Weg nach Hause im luxuriös-aufpreispflichtigen Auto absitzen und nicht wissen, welches Leben da draußen außerhalb der Scheiben schon vor der Garage existiert.
Bevor jetzt Praxistauglichkeit oder technischer Fortschritt von Seiten der Automobilisti angeführt werden: Mit einem Hänger fahre ich meine Getränkekisten von Tür zu Tür, und nicht nur von Parkplatz zu Parkplatz. Moderne Elektronik wie Smartphone oder Garmin wird durch den Nabendynamo mit USB-Stromanschluß im Gabelschaft versorgt. Halogenlampen oder ähnlicher Glühlampen-Retrokram wird seit 10 Jahren nur noch an 150-Euro-Baumarkt-Rädern verbaut, LED-Beleuchtung mit Einschaltautomatik hat so brauchbare Leuchtstärken erreicht, daß jede Nachtfahrt zum Vergnügen wird.
Es mag an meiner eingeschränkten Wahrnehmung liegen, aber nach etlichen Jahren praktizierten Radelns als Verkehrsleistung kann ich beim besten Willen keinen Nachteil zur Automobilität mehr ausmachen. Für mich ist der Schritt zurück unüberwindlich. Das Leben ohne Auto ist definitiv anders, aber schlechter ist es sicher nicht.
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Jochen Michel
"Wir müssen in den kommenden Jahren mit einem Ölpreis von 200 bis 250 Dollar pro Fass rechnen."
--- Matthew R. Simmons, Erdölexperte, Autor des Buches „Wenn der Wüste das Öl ausgeht” (FinanzBuch Verlag, 2007).
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